natur-fotos.net | Naturfotografien von Christoph Mischke

"Das grundlegende Ziel ist es, die Schöpfung zu bewahren.
Nur wenn wir die Natur um ihrer selbst willen schützen, wird sie uns Menschen erlauben zu leben."
(Richard von Weizsäcker)

 

Am Anfang war das Ei ...

... genauer gesagt: es waren elf Eier. Nun aber erstmal der Reihe nach:

Ende des Jahres 2004 hatte ich auf unserem Balkon einen Nistkasten für Meisen aufgehängt. Im Winter wurde dieser hin und wieder von Blaumeisen als Nachtlager genutzt, und im Frühjahr 2005 brütete zu meiner großen Freude ein Blaumeisenpärchen in besagtem Kasten. Wie gerne hätte ich mal einen Blick auf die Brut geworfen, leider konnte ich jedoch immer nur die Eltern beim An- und Abflug beobachten. Für die nächste Saison musste ich mir etwas einfallen lassen.
   

Anfang des Jahres 2006 stöberte ich im Internet eine kleine Nistkastenkamera auf, die mit Infrarotlicht arbeitet, so dass auch Aufnahmen bei Dunkelheit möglich sind. Zwar liefert diese Kamera nur Schwarzweißbilder, dafür ist sie mit ca. 25.- Euro aber auch recht preiswert (immerhin bestand ja das Risiko, dass der Nistkasten in dieser Brutsaison gar nicht genutzt wird). Die Kamera wurde bestellt und in den Nistkasten eingebaut. Videokabel und Stromversorgung verlegte ich durch das Fenster meines Arbeitszimmers. Somit konnte ich die kleine Kamera an meinen Computer anschließen und war nun immer darüber „im Bilde“, was im Nistkasten so vor sich ging. Würde wieder eine Brut stattfinden? Tatsächlich …

 
Im folgenden Bericht können Sie nachlesen und sich auch ansehen, was beim Entstehen einer neuen Blaumeisengeneration so alles geschieht. Die Schwarzweiß-Bilder stammen aus Videofilmen, die ich mit der Nistkastenkamera aufgenommen habe. Sie sind qualitativ sicherlich nicht sehr gut, vermitteln dennoch einen ganz schönen Eindruck vom Geschehen im Nest. 
   

28.04.2006: 
Das Gelege ist fertig. Mit elf Eiern (das letzte kam heute hinzu) liegt es im Rahmen der von Blaumeisen normalerweise produzierten Gelegegröße (7 bis 16 Eier). Laut Literatur werden die ersten Küken 13 bis 14 Tage nach dem Legen schlüpfen … 

29.04.2006 - 09.05.2006: 
Die Eier werden bebrütet und auch häufig gewendet. Ab und zu wird der brütende Vogel von seinem Partner mit Nahrung versorgt - scheinbar aber nicht ausreichend, denn das Gelege wird öfters auch mal verlassen (für maximal 10 Minuten).

   
10.05.2006: 
Nachdem gestern die beiden ersten Küken geschlüpft sind, folgt heute Schritt für Schritt der Rest der Brut. Das Zählen ist ob des Durcheinanders im Nest gar nicht so einfach. Natürlich müssen die Eltern nun häufig füttern. Später stellt sich heraus, dass es zehn Küken sind. Wenn die Angaben aus der Literatur stimmen, werden die Küken nun noch 18 Tage im Nistkasten verbringen und somit am 27. bzw. 28.05.2006 (Samstag und Sonntag) in die Freiheit fliegen. Die Meisen haben sogar daran gedacht, dass ich berufstätig bin - nicht zu fassen … 
   
15.05.2006: 
So langsam macht sich bei den Küken das wachsende Federkleid bemerkbar. Die Eltern schaffen fast unablässig Nahrung herbei. Wer am besten auf sich aufmerksam macht, bekommt auch am meisten - dabei gehen die Kleinen nicht zimperlich miteinander um. 
   
18.05.2006: 
Heute konnte ich zum ersten Mal beobachten, wie ein Küken seine Flügelchen "ausprobiert" hat. Das Flattern klappt schon recht gut. Diese Trockenübungen stehen von nun an jeden Tag auf dem Programm. 
   
21.05.2006: 
Die Entwicklung schreitet voran: seit zwei Tagen öffnen die Kleinen ihre Augen. Die zehn Schnäbel wollen immer mehr ... 
   
22.05.2006: 
Das Nest wird durch das schnelle Wachstum der kleinen Blaumeisen immer voller. Wer so schnell wächst, hat auch viel Appetit. Die Eltern kommen mit vollen Schnäbeln und verlassen den Nistkasten auch wieder mit vollen Schnäbeln, denn auch der Kot der Kleinen will entsorgt werden - schließlich muss das Nest sauber bleiben. 
   
26.05.2006: 
Eine immer stärker werdende Unruhe ist bei den Kleinen festzustellen. Die Flügel werden getestet, und ab und zu schaut auch mal ein Küken aus dem Loch des Nistkastens in die große, weite Welt hinaus. Ich bereite meine Fotoausrüstung vor, um sie im Fall der Fälle möglichst schnell auf dem Balkon einsatzbereit zu haben. 
   
27.05.2006: 
Sollte meine Berechnung stimmen, könnte es heute schon losgehen. Die jungen Blaumeisen sind extrem unruhig. Aufgeregt versucht jedes Küken hin und wieder, durch das Loch nach draußen zu schauen. Die Eltern füttern noch fleißig. Ich beobachte sie viel. Dennoch muss ich abends gegen 22.30 Uhr feststellen, dass mir das Verschwinden zweier Küken entgangen ist. Unbemerkt haben sich die beiden ersten Jungvögel genau an die Literaturangabe gehalten und nach 18 Tagen das Nest verlassen. Die restlichen acht Vögel, die einen Tag später geschlüpft sind, schlafen ruhig. Jedoch ist zum ersten Mal seit Brutbeginn nachts kein Elternvogel im Nistkasten. Morgen muss ich noch wachsamer sein! 
   
28.05.2006: 
Um 6.15 Uhr schalte ich den Computer ein, um einen Blick auf „meine“ Blaumeisen zu werfen. Zu meiner großen Überraschung sitzt nur noch eine kleine Meise im Nest und eine befindet sich abflugbereit im Loch des Nistkastens. Alle anderen sind schon weg! 

Keine fünf Minuten später sitze ich - bekleidet mit Jacke und Jogginghose über dem Schlafanzug - hinter meiner Kamera auf dem Balkon. Dicke Wolken sorgen für erbärmliche Lichtverhältnisse. Lautes Tschilpen ist aus Richtung des Nistkastens zu vernehmen. Aber auch aus einer anderen Ecke des Balkons dringt Jungvogelgesang an mein Ohr. In einer Pflanze sitzt noch ein Küken. Was für ein goldiges Kerlchen! 

Jäh werde ich aus der Freude über diesen Anblick gerissen: ein großer Vogel fliegt zielstrebig auf den Balkon zu, will auf dem Geländer landen, sucht jedoch bei meinem Anblick das Weite. Ein Turmfalkenmännchen! Ich möchte nicht wissen, wie viele Jungmeisen er sich schon vom Balkon geholt hat. So ist die Natur - auch der Turmfalkennachwuchs hat Hunger. 
   
Inzwischen hat die vorletzte Meise den „Absprung“ geschafft und erkundet gemeinsam mit seinem Geschwisterchen den Balkon. Die ersten Kurzflüge klappen schon recht gut, nur das gezielte Landen ist noch eine echte Herausforderung. Die Balkonpflanzen erweisen sich aber als gutes Übungsfeld. Ich beobachte die Kleinen und merke, dass sie überhaupt keine Scheu zeigen, was mich dazu veranlasst, mein 150 mm-Makroobjektiv zum Einsatz zu bringen. 
   
Eine der Meisen plumpst - von der Neugier getrieben - in die Dachrinne, die den Rand unseres Balkons umgibt. Während ich mich über das Balkongeländer beuge, um nach der Meise zu sehen, spüre ich ein Kitzeln auf meinem linken Fuß (ich hatte nur Badeschlappen an). Nicht zu fassen: das Geschwisterchen der „Dachrinnenmeise“ sitzt auf meinem Fuß und genießt die Aussicht! Als ich ein Foto machen will, hüpft es jedoch schnell wieder von meinem Fuß herunter. 

Die „Dachrinnenmeise“ hat inzwischen den oberen Rand der Dachrinne erklommen, und es dauert nicht lange, bis sie davonfliegt und in einem Baum vor unserem Haus landet. Ihr Geschwisterchen will denselben Weg einschlagen und sitzt plötzlich auch in der Dachrinne.
   
Wieder geschieht, während ich es beobachte, etwas völlig Unerwartetes: Die letzte Meise fliegt aus dem Nistkasten und landet an meinem Hosenbein. Sie krallt sich fest und sondiert erstmal die Umgebung, während ich diese außergewöhnliche Situation im Bild festhalte. 
   

Auch die letzte Blaumeise verlässt den Balkon über die Dachrinne. Sie fliegt jedoch nicht gleich einen Baum an, sondern landet zunächst auf einem schräg unterhalb unseres Balkons befindlichen Fensterbrett. Dort lässt sie sich von der inzwischen durch die Wolken scheinenden Sonne wärmen, bevor auch sie so richtig ins Leben startet.

Vielleicht begegnen wir uns ja mal wieder? Unser Nistkasten wird auf jeden Fall auch in der kommenden Brutsaison an seinem Platz hängen und hoffentlich erneut „Kinderstube“ einer neuen Meisengeneration sein.